Einführung

Hochgeschätzter Lehrer

Brief von Ludwig Dehio an Harry Bresslau, 05.05.1918

Der junge Harry Bresslau hatte sich als Erzieher und Lehrer pädagogische Fähigkeiten angeeignet, die ihm in seiner rund vierzigjährigen Tätigkeit als Hochschullehrer zugutekamen. Alfred Hessel, der mehrere Jahre in Straßburg als Mitarbeiter Bresslaus an der Herausgabe der Urkunden Konrads II. für die Monumenta Germaniae Historica mitgearbeitet hatte, beschrieb in seinem Nachruf auf Bresslau dessen Vorlesungen als klar gegliedert, mit sorgfältiger Untermauerung durch Primärquellen, knappgehalten und ohne Abschweifungen. Durch die Vergabe von Referaten brachte Bresslau die Studierenden zur aktiven Mitarbeit. Bresslau selbst schätzte, als Hochschullehrer 90 bis 100 Dissertationen angeregt zu haben, zum größten Teil in seiner Berliner Zeit. Sein Einfluss auf das starke Anwachsen von Dissertationen im Bereich des Mittelalters während seiner Lehrtätigkeit in Berlin wird durch die Forschung bestätigt.

Ein Feldpostbrief von 1918 in Bresslaus Nachlass, auf dünnem Papier eng beschrieben und mit eindrücklichen Beschreibungen, gibt Zeugnis von dem vertrauensvollen Verhältnis eines Schülers zu Professor Bresslau. Verfasser des Briefes war der Historiker Ludwig Dehio , der 1913 von Bresslau promoviert worden war und nach dem Krieg aus materiellen Gründen in den Archivdienst eintrat.

Transkription

Im Felde 5.V.18
Hochverehrter Herr Professor,

Die Briefsperre ist längst aufgehoben und endlich erlauben es mir auch die äußeren Umstände von der Schreibfreiheit Gebrauch zu machen; ich habe ein Dach überm Kopf in Gestalt eines alten, leider sehr feuchten englischen Unterstandes und Papier habe ich mir auch glücklich in einer Kantine verschaffen können. Denn von meinem Rucksack, auf den ich seit über einem Monat ausschließlich angewiesen bin, heißt es: was er nicht hat, das eben brauchte man und was er hat kann man nicht brauchen.

Meine Wünsche zu Ihrem Fest habe ich auf offener Karte gesagt. Was ich dort nicht habe sagen können ist der tiefe, und mit den Jahren sich vertiefende, Dank, mit dem ich mich als Ihr Schüler fühle. Als ich vor einem Dutzend Jahren anfing, Ihre Vorlesungen zu hören, war ich geneigt mit luftigen Phantasien ins Blaue zu spekulieren. Die Klarheit und Schärfe in Ihrem Vortrag war das gesündeste Gegenmittel. Am Anfang hätte ich es nicht immer so willig angenommen, wenn mich nicht stets von neuem die souveräne Beherrschung von Form und Sprache hingezogen hätte, wenn ich nicht von Semester zu Semester deutlicher geahnt hätte, wie viel Kunst und Erkenntnis sich hinter einer scheinbar einfachen Zusammenstellung von Tat sachen verbergen kann. Die erste Teilnahme an Ihrem Seminar entschied dann endgültig über den weiteren Gang meines Studiums. Die kunstgeschichtlichen Neigungen kamen an den zweiten Platz; ich fürchtete auf diesem Boden immer nur der Sohn meines Vaters zu bleiben, nie auf eigenen Beinen zu stehen. Wenn ich die Richtigkeit meines Entschlusses in Stunden der Entmutigung angezweifelt habe, bereut habe ich ihn nie, am wenigsten heute. Täusche ich mich nicht, so hat der so überaus zahlreiche Nachwuchs an Kunsthistorikern etwas Epigonenhaftes, die großen Aufgaben sind für eine gewisse Zeit erledigt. In der Geschichte werden sie nach diesem Kriege erst recht kommen; aber – die Beherrschung der altmeisterlichen kritischen Methode wird die beste Voraussetzung für Leistungen auf neuen wie alten Arbeitsfeldern bleiben. Ob mich meine künftigen Arbeiten – wenn ich mit leidlicher Gesundheit heim kehren sollte – in die Zahl Ihrer würdigen Schüler einreihen, muss sich weisen; in der Zahl Ihrer dankbaren Schüler werde ich stets bleiben.

Mit einem gewissen ungläubigen Lächeln schreibe ich von künftigen Arbeiten. Wie lange soll ich noch als Tourist in der Weltgeschichte die besten Jahre verreisen, ohne zusammenhängende die Energie in Anspruch nehmende Tätigkeit! Dass doch Geschichte keine Kriegsindustrie ist und man sich „anfordern“ lassen kann! Die Arbeit fehlt; aber langweilig im gewöhn lichen Sinne ist mein Leben keineswegs. So war der Durchmarsch durch das verwüstete Siegfriedgebiet ein ganz neuer Eindruck. Diesseits der Oise die typische liebliche, baumreiche, mit Dörfern übersäte französische Landschaft, jenseits missfarbene, mit dürrem Unkraut bedeckte Hügelwellen, von den Dörfern nur ein rötlicher Ziegelschmier am Boden, auf eine gewisse Entfernung wie blühendes Heidekraut, von den Bäumen hie und da eine abgesägte Krone aber selbst von denen sind die meisten verbrannt. Dieser Verwüstungsgürtel ist aber nur etwa 10 km breit, das übrige Land ist ziemlich intakt. – Ein wirklich widerwärtiger Anblick ist S. Quentin. Es ist aus Ziegeln gebaut und so eine dünne Ziegelmauer stürzt schnell ganz ein, wenn erst einmal ein Granatloch drin sitzt, Dächer und Zwischenböden rutschen nach. Reste von zerbrochenem, vermodertem, stinkendem Hausrat erfüllen die zugänglichen Räume. Von der Basilika sind im wesentlichen nur Gewölbe und Giebel eingestürzt. Da sie aber schon vor der Beschießung baufällig war – man unterschrieb schon damals einen Zettel, dass man sie auf eigenes Risiko betrat – fürchtete ich sehr für die Mauern und Pfeiler; dann an Schutzmassregeln ist bei der Überlastung der Verkehrsmittel nicht zu denken. – Sehr neugierig waren wir zu sehen was die Franzosen und Engländer im Stellungs-, Baracken-, Straßen-Bau im Anbau der Felder und d[er]gl[eichen] geleistet hatten: verblüffend wenig. An der Oise war nicht einmal ein Drahtverhau, kaum Gräben, kein Stollen, keine Betonbauten; die Unter kunft fast ausschließlich behelfsmäßig aus dem umherliegenden Material hergestellt und so ungemütlich wie möglich; die Felder zu geringsten Teil angebaut. Im Ganzen nicht nur ein erschreckender Mangel an Organisationsfähigkeit, sondern mehr noch an Arbeitskräften und Material. Und das ist doch ein tröstlicher Eindruck unter andern, von denen ich hier nicht reden darf.

Ich habe noch meinen Dank zu sagen für eine Karte, die mich über das rechtzeitige Eintreffen der von mir bestellten Blumen beruhigt. Wie gerne wäre ich selbst dabei gewesen, auch in Erinnerung an den 80 j[ährigen] Geburtstag meines Großvaters, zu dem Sie in der Gluthitze nach dem Schimmel gekommen waren. Möge so wie ihm auch Ihnen Gesundheit und Arbeitslust in allen Jahren treu bleiben und die letztere einem schnellen Fortschreiten der Geschichte der Monumenta im besonderen zu Gute kommen!

Mit der Bitte mich Ihrer verehrten Frau Gemahlin empfehlen zu wollen
in alter Verehrung
Ludwig Dehio