Einführung

Ungehörter Kritiker

Brief von Henry Simonsfeld an Reinhold Koser, 08.04.1912

Dass Henry Simonsfeld die Entfremdung von den MGH bis zuletzt nicht verwand, verrät der kleine Briefwechsel, der sich 1912 zwischen ihm und Reinhold Koser entspann, ein Jahr, bevor er an den Folgen einer Magenoperation verstarb. In seinem ersten Brief machte er sich die Diagnose drohender Stagnation zu eigen, die in der Öffentlichkeit wiederholt laut geworden war. Bemerkenswerter sind seine Ausführungen zur prekären Lage der wissenschaftlichen Mitarbeiter und wie dieser abzuhelfen sei. Der Befund, dass für die Mitarbeiter schlecht gesorgt war, ist von Horst Fuhrmann eindrucksvoll aus Dokumenten des MGH-Archivs beleuchtet worden.

Im Rückblick kommentiert Simonsfeld damit noch einmal die Motive, die ihn 1878 zur Ablehnung einer Mitarbeiterstelle brachten. Obwohl durch eigene Erfahrung gespeist, ist der Brief in der Haltung eines außenstehenden Beobachters geschrieben. Die MGH sind für Simonsfeld nicht mehr das „wir“, dem er in den Zeiten Waitz‘ und Wattenbachs begeistert seine Arbeitskraft gewidmet hatte. Durch den Verweis auf seine Beziehung zu Georg Waitz schrieb er sich aber in die Traditionen des Unternehmens ein, und der Brief war höchstwahrscheinlich als Wiederanknüpfung gedacht nach dem vermeintlichen Zwischenspiel Holder-Eggers, der 1911 verstorben war.

Koser beantwortete ihn umgehend in einer Weise, die Simonsfeld auf Distanz hielt. In seinem letzten Schreiben, das im Archiv der MGH erhalten ist, entschuldigte dieser sich, den Adressaten „umsonst belästigt und bemüht“ zu haben (MGH-Archiv 338/12, 14.4.1912). Koser hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er bei den MGH zum Außenseiter geworden war, auf dessen Ratschläge man keinen Wert legte. Dass seine Anmerkungen zum Status der Mitarbeiter durchaus nicht so gegenstandslos waren, wie Koser offenbar behauptet hatte, steht auf einem anderen Blatt.

Transkription

Hochverehrter Herr Wirkl[icher] Geh[eimer] Oberregierungsrat!

Gestatten Euer Hochwohlgeboren , daß ich zunächst meinen verbindlichsten Dank für die gütige Uebersendung der schönen Festrede vom 24. Januar zum Ausdruck bringe und daran anschließend es wage, Euer Hochwohlgeboren mit Nachfolgendem zu belästigen.

Wenn ich mich recht erinnere, findet um diese Zeit alljährlich die Plenarversammlung der Zentraldirektion der Mon[umenta] Germ[aniae] Histor[ica] statt, in welcher diesmal, wie Euer Hochwohlgeboren mir früher mitzuteilen die Güte hatte, wohl auch über die durch den zu frühen Tod des Geh[eimen] Reg[ierungs]-R[ats] Prof. Holder-Egger erledigte Stelle eines Leiters der Abteilung „Scriptores“ Beratung gepflogen werden wird. Wäre bei diesem Anlasse nun nicht vielleicht auch Gelegenheit gegeben, diese Beratung auf die Abteilung der Scriptores selbst auszudehnen?

Es ist ja wohl kein Geheimnis, daß vielfach über die Langsamkeit der Veröffentlichungen gerade dieser Abteilung Klagen laut geworden sind, denen man eine gewisse Be rechtigung kaum wird absprechen können. Der Grund dieses Uebelstandes liegt meines Erachtens darin, daß sowohl früher schon, wie namentlich zuletzt die Publikation dieser Scriptores allzusehr in den Händen eines Einzigen, zuletzt eben in denen des Leiters der Abteilung, Geh. Reg.-R. Prof. Holder-Egger konzentriert war. Selbst ein Mann von so großartiger Arbeitskraft, Kenntnis und Leistungsfähigkeit konnte unmöglich Alles bewältigen, zumal wenn, wie es von seiten pp. Holder Eggers geschehen ist, die Ausgaben mit einem so reichen Kommentar versehen sind. Da scheinen zur Unterstützung des Leiters manche Hilfsarbeiter nötig zu sein, und zwar solche, welche ständig oder wenigstens längere Zeit an den Arbeiten teilnehmen sollten. Ueberprüft man aber die Jahresberichte über die Herausgabe der Mon[umenta] Germ[aniae] Hist[orica], so findet man, daß doch eigentlich ein sehr häufiger Wechsel bei diesen Hilfsarbeitern stattgefunden hat – wohl aus dem sehr erklärlichen Grunde, weil ihre Stellung keine sehr gut honorierte und besonders keine Lebensstellung war oder ist, so daß sich nach einigen Jahren die betreffenden Herren nach einer anderen dauernden Versorgung umsehen mußten. Hier wäre meiner Meinung nach der Hebel anzusetzen. Die Zahl der ständigen Hilfsarbeiter müßte vermehrt (auf vielleicht 3-4) und ihre Besoldung so erhöht oder noch besser ihre Stellung in eine pragmatische umgewandelt werden, so daß sie ihre Dienste dauernd den Mon[umenta] Germ[aniae] Hist[orica] widmen könnten. Die Mittel dazu dürften sich doch kaum allzu hoch belaufen, und ich möchte mir daher die Anregung erlauben, ob nicht die diesjährige Plenarversammlung der Zentraldirektion einen dahingehenden Beschluß fassen und sich dann an die Reichsregierung mit dem Ersuchen wenden möchte, die nötigen Mittel dafür bereit zu stellen. Aus einem solchen Stamm an Mit- oder Hilfsarbeitern könnte dann eventuell auch leicht nötigenfalls ein Leiter entnommen werden.

Dabei würde vielleicht auch noch die Frage zu erwägen sein, ob die Ausgabe der Chroniken u.s.w. in Zukunft auch mit einem so reichen Kommentar zu versehen sind, wie dies zuletzt wohl, aber früher nicht der Fall gewesen ist. Daß damit den Benutzern freilich ein sehr willkommener Dienst geleistet wird, ist ja klar; daß aber dadurch die Benutzung der kritisch gereinigten und bearbeiteten Texte hinausgeschoben wird, dürfte auch sicher sein. Eine Vermehrung der Arbeitskräfte wäre auch von diesem Gesichtspunkte aus erwünscht.

Wenn ich mir erlaubt habe, diese Gedanken Euer Hochwohlgeboren als Vorsitzenden der Zentraldirektion zu unterbreiten, so bitte ich darin den Ausdruck meiner aufrichtigen Teilnahme an den Geschicken dieses monumentalen Werkes zu erblicken, an dem ich unter meinem unvergeßlichen Lehrer Waitz mitzuarbeiten die Ehre hatte. Zugleich bitte ich Euer Hochwohlgeboren damit ganz nach Belieben und Gutdünken zu verfahren d.h. entweder diese Zeilen der Plenarversammlung zu unterbreiten, wenn Euer Hochwohlgeboren es für angezeigt halten, oder dieselben einfach in den Papierkorb wandern zu lassen.

Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung zeichne ich

Euer Hochwohlgeboren
Ergebenster Prof. Dr. H. Simonsfeld

München, 8. April 1912
Schellingstr. 89/III.