Einführung

Stellungnahme im Berliner Antisemitismusstreit

Das Sendschreiben „Zur Judenfrage“ von Harry Bresslau an Herrn Prof. Dr. Heinrich von Treitschke

Um 1875 wuchs die Agitation gegen Juden in Deutschland. Der an der Berliner Universität lehrende Historiker und Reichstagsabgeordnete Heinrich von Treitschke führte 1879 die antisemitische Polemik mit seinem Artikel „Unsere Aussichten“, der in der Aussage „die Juden sind unser Unglück“ gipfelte, in akademische Kreise ein und löste damit den sogenannten Berliner Antisemitismusstreit aus. Entgegnungen auf Treitschkes Thesen wurden von Rabbinern wie auch jüdischen Politikern und Professoren verfasst. Der spätere Literaturnobelpreisträger Theodor Mommsen engagierte sich als einer von wenigen Christen in der etwa zwei Jahre andauernden Auseinandersetzung.

1880 antwortete Bresslau, seit 1877 außerordentlicher Professor, auf Treitschkes Beitrag mit seinem Sendschreiben; einem ausführlichen, auf historischen Grundlagen und philosophischen Betrachtungen aufbauenden Appell an das wissenschaftliche Ethos des Fachkollegen („auch der Patriot sollte nicht behaupten, was der Historiker nicht verantworten kann“, S. 11). Zur Untermauerung teilte Bresslau sogar eine eigene Kindheitserfahrung mit: „Es ist eine der trübsten Erinnerungen aus meiner Kinderzeit, mit welchem Schmerz und mit welcher Bitterkeit es mich erfüllte, wenn mir als siebenjährigem Knaben, der sich keiner Schuld bewusst war und von nationalen Unterschieden noch wenig verstand, die Buben auf der Straße schmähend Jude nachriefen“ (S. 11). Er wies auf den hohen Anteil deutscher Juden in Kunst und Wissenschaft hin, ohne jedoch zu thematisieren, dass auch Konkurrenzdenken ein Motor für Antisemitismus sein könnte: „An den deutschen Hochschulen wirken gegenwärtig, (…), gegen 70 Professoren rein jüdischer Abkunft; darunter namhafte Vertreter aller Disciplinen, der protestantischen Theologie und der Jurisprudenz, der Philosophie und Philologie, der Geschichte und Mathematik, der Medicin und der Naturwissenschaften“ (S. 17).

Bresslaus Argumente beeindruckten die Gegenseite nicht, sein Appell an die Vernunft verhallte ungehört. Der antijüdischen Partei um Treitschke ging es nicht um Fakten. In den folgenden Jahren musste Harry Bresslau erfahren, dass er selbst wegen seiner jüdischen Abstammung, obwohl kein praktizierender Jude, bei Beförderungen an der Universität seinen christlichen Kollegen nicht gleichgestellt war. Nicht-Christen könnten die mittelalterliche Geschichte, die mit der Kirche eng verknüpft sei, nicht verantwortungsvoll lehren, wurde als Argument gegen eine ordentliche Professur Harry Bresslaus ins Feld geführt. Nachdem einige Vertreter der Fakultät das Kultusministerium mehrfach zur Vergabe einer ordentlichen Professur an Harry Bresslau mit Verweis auf seine hohen wissenschaftlichen Leistungen aufgefordert hatten, wurde ihm eine solche an der neugegründeten Straßburger Universität angeboten. 1890 nahm Bresslau den Ruf nach Straßburg an.

Zur Judenfrage: Sendschreiben an Herrn Prof. Dr. Heinrich von Treitschke von Harry Bresslau. Berlin 1880