Einführung

Retter des Gregor von Tours

Brief von Paul Fridolin Kehr an Wilhelm Levison, 19.06.1935

„Ich habe so an vier Quartbänden und (…) drei Oktavbänden den ‚sanctus amor patriae‘ betätigt, von gelegentlichen Arbeiten für andere Abteilungen der M[onumenta] G[ermaniae] zu schweigen, und bin über 21 Jahre lang „ständiger“ Mitarbeiter gewesen. Da werden Sie es begreifen können, daß ich den Wunsch habe, nach all den Textausgaben und ihren lateinischen Einleitungen auch einmal an eine Darstellung höheren Stils heranzugehen.“ Entschieden lehnte Levison im Februar 1920 eine Anfrage Paul Kehrs bezüglich neuer Editionsaufgaben ab, schloss den Brief aber doch mit versöhnlichen Worten: „Jedenfalls danke ich Ihnen herzlich für Ihr ehrenvolles Angebot und bitte Sie, mir nach 21 Jahren der Mitarbeiterschaft den (mindestens vorläufigen) Korb nicht zu verübeln“ (MGH-Archiv 338/201, 23.2.1920).

Als allerdings 15 Jahre später sein Lehrmeister und ehemaliger Vorgesetzter, der 78jährige Bruno Krusch, seine von 1884 stammende Ausgabe der Historia Francorum des Gregor von Tours neu edieren wollte, konnte Levison die Unterstützung nicht versagen. Paul Kehr war erleichtert, denn als Leiter des neuen NS-Reichsinstituts, in das die MGH umstrukturiert worden waren, lag die Verantwortung für die Edition weiterhin in seinen Händen. In dem abgebildeten Brief an Levison drückte er deutlich seine Wertschätzung gegenüber dem jüdischen Kollegen und vor allem seine Erleichterung über dessen Zusage aus.

Dass Levison die Arbeit für den fast erblindeten Krusch realistisch einschätzte, zeigt seine Antwort auf Kehrs Brief: „Was nun den Gregor von Tours angeht, so habe ich mich dem Wunsche von Krusch nicht entziehen wollen, ich sage offen: aus Pflichtgefühl – denn es wird eine wenig erfreuliche Arbeit sein, die meine eigenen Arbeitswünsche behindert und bei der im Grunde wenig von Belang herauskommt. Aber bei dem offenbar leider zunehmenden Versagen der Augen von Krusch, dessen letzte Arbeiten ja die sinnentstellendsten Druckfehler aufweisen, glaubte ich es der Dankbarkeit gegenüber Krusch und überhaupt dem „sanctus amor patriae“ schuldig zu sein, hier persönliche Wünsche zurückzustellen“ (MGH-Archiv B 556, Blatt 33, 20.6.1935).

1936 betonte Paul Kehr in seinem letzten Jahresbericht noch einmal die Bedeutung Wilhelm Levisons für die MGH: „Geheimrat Krusch ist körperlich eine Ruine und fast erblindet, auch sehr schwierig. In Wirklichkeit liegt die ganze Arbeit und Verantwortung bei Levison, dem einzigen noch lebenden Sachkundigen für die Merovingerzeit“ (MGH-Archiv B 536, unveröffentlichter Jahresbericht 1935 von Paul Kehr, Blatt 18). Der neue Leiter des Reichsinstituts Wilhelm Engel ließ allerdings diesen Berichtsteil nicht drucken. Ab dem Berichtsjahr 1936 taucht Wilhelm Levison in den veröffentlichten Jahresberichten des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde (Monumenta Germaniae historica)“ nicht mehr auf.

Transkription

Berlin NW 7 Charlottenstr. 41
den 19. Juni 1935

Hochverehrter Herr Kollege,

ich wollte Ihnen immer schon schreiben, aber bei dem Hin und Her meines Daseins oder Nichtdaseins und der Flut der Geschäfte und Schreibereien hab ichs immer vertagt. Ich glaubte auch dass Sie mich hinreichend kennen, um zu wissen, dass nichts meine Verehrung für Sie und meine Hochachtung für Ihre Wissenschaft und Lehrverdienste erschüttern oder mindern kann. Etwas Positives konnte ich freilich bisher nicht schreiben; erst jetzt fängt eine gewisse Klärung an einzusetzen. Die Hauptsache war mir die M[onumenta] G[ermaniae] aus dem grossen Sturm herauszubringen und da war mir Eckhardt, den ich zu meinem Nachfolger vorschlug, eine grosse Hilfe, dem wir alle Dank schulden. Wir wären vielleicht sonst der Mythologie verfallen.

Zunächst bin ich mit allen Vollmachten bis 31/III 36 kommissarisch beauftragt.

Eben schreibt mir Krusch, dass er Mitte Juli den Druck des Gregors beginne und dass Sie sich bereit erklärt hätten, die Korrektur zu lesen. Mir fällt damit ein Felsblock vom Herzen. Ich weiß nicht, was Sie von Kruschs jüngsten Aufsätzen denken: mir aber ist bei seiner offenbar zunehmenden Erblindung schwül zu Mute und ich fürchtete schon, dass alle auf die Lex Salica und den Gregor verwandte Mühe und Geld pro nihilo gewesen sei. Sie erwerben sich also um die Mon[umenta] Germ[aniae] noch einmal ein grosses Verdienst, vielleicht, wie ich hoffe, sogar das grösste, wenn Sie die Krusche Ladung in den Hafen bringen. Kann ich sonst helfen, wird’s an mir nicht fehlen.

Mit den besten Empfehlungen an Ihre verehrte Gattin und den aufrichtigsten Wünschen für Ihr Wohlergehen und Ihre Arbeit wie immer

Ihr Ihnen herzlich ergebener, sehr eiliger

Kehr