Einführung

Emigration in letzter Minute

Brief von Bruno Krusch an Wilhelm Levison, 16.05.1939

Levison wollte Deutschland nicht verlassen, auch wenn ihm von verschiedenen Seiten zur Emigration geraten wurde. Fest in Bonn verwurzelt hatte er lange Zeit alle Erschwernisse in Kauf genommen. Es gelang ihm, seine Forschungen weiterzuführen und in ausländischen Zeitschriften zu veröffentlichen. Auch für die MGH, seit 1935 „Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtskunde“, arbeitete er weiter. 1937 konnte durch seine Hilfe ein erster Faszikel der Neuedition der Historia Gregors von Tours veröffentlicht werden. Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde gab im gleichen Jahr eine Ausgabe des Caesarius von Heisterbach heraus, an der Levison mitgearbeitet hatte. In beiden Veröffentlichungen wurde seine Mitwirkung verschwiegen.

Die zunehmenden gegen Juden gerichteten Repressalien und Bedrohungen ignorierte Levison solange wie möglich, zumal sich seine Frau um ihren kranken Vater zu kümmern hatte. Dieser verstarb nach langer Krankheit im Mai 1938. Spätestens nach den Novemberpogromen 1938 gegen die jüdische Bevölkerung wurde offensichtlich, dass die Levisons in Bonn nicht länger sicher waren. In England hatten die Pogrome eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst, so dass Bertram Colgrave, ein wissenschaftlicher Kollege Wilhelm Levisons in Durham, die dortige Universität veranlassen konnte, Levison als Honorary Fellow einzuladen. Die Universität Durham hatte Wilhelm Levison 1931 für seine Arbeiten bereits die Ehrendoktorwürde verliehen. Im April 1939 konnten die Levisons mit der Einladung „regulär“ nach England übersiedeln, wenige Monate vor Ausbruch des 2. Weltkrieges. Erste Anlaufstelle war Wilhelms Bruder Arthur, der seit vielen Jahren in London lebte.

Mit wenigen Worten beschrieb Levison selbst die erzwungene Emigration im 63. Lebensjahr: „Nach Erledigung aller zur Auswanderung nötigen Formalitäten verließ er [W. Levison] mit seiner Frau am 16.IV.1939 die Stadt Bonn, in der sie so viele glückliche Tage verlebt hatten. Am nächsten Tage kamen sie in London an, am 25. in Durham. Sie hatten ihre Einrichtung samt der im Laufe der Lebensarbeit erwachsenen Bibliothek (auch je 10 Mark) mitnehmen dürfen; dank eines Research Fellowship der Universität Durham, der Levison seitdem als Honorary Fellow angehört, und dank der großzügigen Beihilfe seines Bruders Arthur haben sie sich in der schönen Kathedralstadt ein neues Heim gründen, und er seine wissenschaftliche Arbeit wiederaufnehmen können“ (Levison, Familie, S. 65).

Unter den Schriftstücken aus Levisons Nachlass befindet sich ein Brief Bruno Kruschs vom Mai 1939. Schon seit Jahren konnte Krusch Briefe wegen seiner zunehmenden Blindheit nicht mehr selbst schreiben, nur die Unterschrift setzte er immer noch eigenhändig darunter. Dieser Brief des Mannes, der Levison 40 Jahre zuvor zu den MGH geholt hatte, durch den Levison zu einem Spezialisten für frühmittelalterliches Latein geworden und der immer mehr von Levisons wissenschaftlicher Unterstützung abhängig geworden war, zeigt die Erleichterung, Levison wohlbehalten zu wissen. Der 82jährige Krusch, sonst eher für gnadenlose Scharfzüngigkeit bekannt, nahm Anteil am Schicksal seines langjährigen Mitarbeiters.

Transkription

Hannover, d[en] 16.V.39.

Wiesenstr. 24

Lieber Herr Levison:

Wie ich mich über Ihren heutigen Brief gefreut habe, können Sie sich kaum vorstellen. Ich glaubte, Sie würden sich nach Belgien wenden, aber in Durham, wo Sie Ehrendoktor sind, haben Sie es ja viel besser getroffen. So hat sich Ihr Schicksal zum Guten gewendet. Meine herzliche Gratulation Ihnen und Ihrer lieben Gattin dazu. Sie kondolieren mir auch so teilnehmende Worte zu dem Tode meines jüngsten Bruders. Er hatte die ganze Intelligenz und die ganze Energie meines Vaters geerbt, und mit der Familie betrauert auch die Wissenschaft sein plötzliches Hinscheiden. Sein grosses Werk über die Gesteinkunde bleibt nun ein Torso.

Sorgen Sie doch bitte dafür, dass zunächst meine Präfatio schnell gedruckt wird. Heinrich kann als Direktor einer Volksbibliothek so weit kommen wie als Archivdirektor. Über den verlogenen Bösewicht in Göttingen verliere ich kein Wort.

Herzliche Grüße an Sie und Ihre liebe Gattin und weiter viel Glück.

Ihr Krusch.

Abs: Geh[eimer] Archivrat Dr. Krusch.