Einführung

Unterwegs in Italien

Brief von Henry Simonsfeld an Georg Waitz, 12.10.1881

Fast jedes Jahr unternahm Henry Simonsfeld mehrwöchige Archiv- und Bibliotheksreisen nach Italien, für die er seinen Urlaub als Beamter der Münchner Hof- und Staatsbibliothek und die Semesterferien verwendete. Im Auftrag der MGH bereiste er, abgesehen von einem Aufenthalt in Rom 1878, vor allem Ober- und Mittelitalien, wo er dank der „Rundreisebillets“ der italienischen Eisenbahn zahlreiche Stationen kombinierte. Überall wurde er freundlich aufgenommen und erhielt eine Vorzugsbehandlung. Die Vatikanische Bibliothek war an zahlreichen Feiertagen geschlossen, doch konnte sich Simonsfeld mit Hilfe eines dort tätigen Geistlichen , des Monsignore Bollig , „der sich äußerst gefällig erweist und, als geborener Deutscher, wirklich eine Idee von Arbeit und Studium hat“ (MGH-Archiv B 223, Blatt 24-27, 8.12.1878), und durch einen Appell an den Kardinalbibliothekar Pitra zusätzliche Arbeitstage sichern. Bei der Bibliotheksbenutzung war im Übrigen so manches gestattet, was heute Entsetzen hervorruft: Simonsfeld erwog, an einer schlecht lesbaren vatikanischen Handschrift Reagenzmittel anzuwenden, doch „bei einigen Stellen half Betupfen mit dem nassen Finger“ (MGH-Archiv B 223, Blatt 22-23, 24.11.1878).

Seine Kontaktfreude und Gewandtheit treten in dem auch sonst recht charakteristischen Bericht zutage, den er am 12. Oktober 1881 darüber erstattete, wie es ihm gelang, Zugang zur Handschrift einer Chronik zu erhalten, die er edieren sollte. Sie befand sich im Besitz der Grafen Ferniani, die in Faenza eine traditionsreiche Fayencenmanufaktur betrieben und den jungen Wissenschaftler auf ihr Landgut einluden. Dort benutzte er nicht nur den Kodex, sondern schloss auch Freundschaft mit dem energischen Archivar Carlo Malagola, dem er später einige Anregungen verdanken sollte.

Transkription

München, den 12. Oktober 1881.

Maximiliansstrasse 40.

Hochverehrter Herr Geh[eimer] Reg[ierungs]-Rath!

Mit großer Freude kann ich meinen Bericht über die Arbeiten in Faenza fortsetzen. Zwar als ich am Morgen des 3. Oktober (Montag) in Faenza ankam, schien es zuerst als ob ich wieder nicht so schnell in den Besitz der gewünschten Handschrift kommen sollte. Denn der eigentliche Besitzer, Graf Ottaviano Ferniani, war nach Florenz abgereist. Aber zum Glück hatte dessen älterer Vetter, der Graf Annibale Ferniani (an den ich mich auch noch brieflich von Venedig aus gewendet) Kenntniß von dem Aufbewahrungsort der Handschrift, ja sogar dieselbe bereits auf seinem, eine Stunde von Faenza entfernten, Landgute für mich bereit gelegt, wo er eben mit seiner Frau Gemahlin und anderen Verwandten Sommeraufenthalt genommen. Der neulich erwähnte städtische Bibliothekar, Dott. Bellenghi, hatte die Handschrift noch gar nicht gesehen, hat sich überhaupt geradezu als Lügner entpuppt: denn er hatte mir Anfangs noch hieher geschrieben, nicht einmal die gegenwärtigen Besitzer des Hauses Ferniani wüßten, wann die Handschrift aus deren Bibliothek verloren gegangen sei, während er weder den Grafen noch die Gräfin Annibale Ferniani auch nur einmal gefragt hat, die von der Handschrift recht wohl Kenntniß hatten, aber in der That zur Zeit meines ersten Aufenthaltes in Faenza verreist waren. Jener Herr Bibliothekar hat auch in keiner Weise sein Versprechen gehalten, sogleich nach der Rückkehr des Grafen Ferniani Recherchen nach der Handschrift anzustellen, sondern das erst gethan, als der Graf in Folge meines Briefes denselben darüber interpellierte. Uebrigens hat derselbe in Folge gegen ihn erhobener Beschuldigungen, handschriftliches Material aus der Stadtbibliothek in seine Wohnung haben bringen zu lassen, seinen Posten niedergelegt und, tief verschuldet überdies, wohl seine Rolle ausgespielt.

Um so liebenswürdiger und freundlicher erwies sich Graf Annibale Ferniani und dessen Gemahlin. Da es unmöglich war, täglich von Faenza nach der Villa zu gehen und zurückzukehren, mußte ich die mir aufs herzlichste angebotene Gastfreundschaft annehmen und bis Sonnabend den 8. d[iese]s [zu ergänzen: Monats] auf der Villa verbringen, wo ich ganz nach Belieben arbeiten konnte und daneben den Umgang trefflicher, edler Menschen genoß. Ich denke aber mit um so größerer Freude an diesen herrlichen Aufenthalt zurück, als auch das Resultat meiner Arbeit mir ein sehr befriedigendes zu sein scheint. Die Handschrift ist wirklich der von Mittarelli und Borsieri benutzte, noch dem 13. Jahrh[undert] angehörige Codex Manfredianus, dessen bisherige Benutzung keine genügende genannt werden muß. Er ist allerdings, da die Schrift bisweilen sehr verblaßt ist, nicht leicht zu entziffern, aber Borsieri hat sich doch einige sehr bedenkliche Fehler zu Schulden kommen lassen. Unterstützt von einem Verwandten des Grafen (der übrigens selbst auch das größte Interesse an der Sache zeigte), dem Cav[aliere] Malagola, der Archivbeamter in Bologna ist und an der Herausgabe der Statuten der „deutschen Nation“ zu Bologna für die Savigny-Stiftung betheiligt ist und gerade einen Tag in Faenza verweilte, habe ich unter Anwendung eines Suds von Galläpfeln, fast alle Schwierigkeiten heben und viele Stellen emendieren können. Insbesondere habe ich so eine Seite der Handschrift, anderthalb Kapitel, die bisher von Mittarelli . 16 u[nd] 17 und Borsieri c. 13 u[nd] 14 ausgelassen worden waren, fast vollständig entziffern können; und erst jetzt wird man von einem wirklich verbesserten Text reden können. – Im Anschluß hieran möchte ich mir nun gleich die Frage erlauben, ob die neue Ausgabe des Tolosanus bald erscheinen soll. Es ist nämlich die Möglichkeit nicht ganz ausgeschlossen, daß auch der von Borsieri benutzte und in den Noten aufgeführte Codex Viarani, der jedoch von viel geringerem Werthe erscheint, noch sich vorfindet. Cav[aliere] Malagola wird hiefür noch einige Recherchen anstellen. Ein anderes Bedenken ergibt sich hinsichtlich der Anordnung der Kapitel. Borsieri hat nämlich eigenmächtig eine einzige chronologische Reihe hergestellt, während der Codex, wie aus dem Druck bei Mittarelli ersichtlich, dieselbe nicht strenge innehält, aber doch wohl die richtige, ursprüngliche Anordnung bietet. Es ließen sich nun wohl für die neue Ausgabe in den Monumenten der Druck Borsieris (in den [ ] Documenti t. VI verwerthen, indem man ein Verzeichniß über die zu verändernde Reihenfolge der Kapitel beilegte. Nur weiß ich nicht, ob damit dem Setzer die Arbeit nicht sehr erschwert würde. Andererseits freilich ist es auch fraglich, ob noch ein Exemplar des Mittarelli aufzutreiben ist.

Was die Reisekosten betrifft, so habe ich Ihrem Wunsche gemäß sogleich eine Quittung über 150 M[ar]k ausgestellt, lege aber eine specificierte Rechnung bei. Die doppelte Fahrt nach Faenza wird durch die Gastfreundschaft des Grafen Ferniani einigermaßen aufgehoben; doch habe ich natürlich dem dienenden Personal auf der Villa auch meine Erkenntlichkeit beweisen zu müssen geglaubt. – Durch den längeren Aufenthalt in Faenza ist es mir nun aber nicht mehr möglich gewesen, mich nochmals in Padua aufzuhalten. In Venedig habe ich noch die eine Handschrift des Riccobaldus von Ferrara (Cl. IX,22 ) angesehen, auch den Codex des Chron[icon] Altin[ate] im Seminar nochmals mir geben lassen, da er eine neue Signatur erhalten hat, die ich, sowie eine andere kleine Ergänzung, dem Manuskript hinzufügen werde, mit dessen Revision etc. ich freilich erst jetzt beginnen kann. Indem ich noch hinzufüge, daß H[err] Sekretär Meyer die gewünschte Stelle in dem Windsberger Codex bereits abzuschreiben begonnen, und mich schließlich Ihrem ferneren Wohlwollen empfehle, verbleibe ich

mit vorzüglicher Hochachtung

Euer Hochwohlgeboren ganz ergebenster H. Simonsfeld